Commons: Cecosesola - oder wie man den Markt ignoriert

Hintergrund

Die Kooperative Cecosesola aus Venezuela ist eine der Preisträger*innen des Alternativen Nobelpreises 2022. Das Kollektiv bietet seit mehr als fünf Jahrzehnten Lebensmittel, (Für-)Sorge, Transport und sogar Bestattungen an.

Von Silke Helfrich und David Bollier

Menschen sitzen im Stuhlkreis
Teaser Bild Untertitel
Treffen zur gegenseitigen Unterstützung in der Landwirtschaft.

Cecosesola ist ein außergewöhnlich robustes »Omni-Commons«, ein Verbund von etwa 30 Kooperativen und ebenso vielen Basisorganisationen mit insgesamt etwa 20.000 Mitgliedern.[27] Die städtischen und ländlichen Kooperativen, die im Andenvorland des venezolanischen Bundesstaates Lara verstreut sind, haben die schwierigsten ökonomischen und politischen Verhältnisse überdauert, die man sich vorstellen kann. Seit mehr als fünf Jahrzehnten bieten sie Lebensmittel, (Für-)Sorge, Transport und sogar Bestattungen an. Zentral aber geht es bei Cecosesola nicht um Dienstleistungen und Lebensmittelproduktion, sondern um das Leben und Lernen von dem, was wir in diesem Buch Ubuntu-Rationalität nennen. Es geht um Gemeinschaftsbildungsprozesse, die das Ganze transformieren – das Miteinander, die Organisationsformen, das Tätigsein, die Versorgung und die Menschen selbst. Cecosesola strukturiert und füllt alle Prozesse so, dass Vertrauen und Räume der Gemeinschaftlichkeit entstehen können. Zudem ist der Verbund seit seinen Anfängen Ende der 1960er Jahre tief in der lokalen Ökonomie verankert.

Der Erfolg von Cecosesola lag und liegt in einer kühnen Strategie begründet – nämlich Dinge bedürfnisorientiert herzustellen und verfügbar zu machen und dabei den Markt so weit wie möglich zu ignorieren (der momentan allerdings am Boden liegt). Der Verbund öffnete eigene Räume für den Handel – vier riesige Märkte im Norden, Süden, Osten und Westen von Barquisimeto, einer 1,25-Millionen-Metropole, der Hauptstadt des Bundesstaates. Und er setzt eigene Preise für das, was in den Kooperativen hergestellt wurde. Auf diesen Märkten werden wöchentlich etwa 700 Tonnen frisches Obst und Gemüse zum Einheitskilopreis verkauft. Dieser Preis – derselbe für Tomaten und Kartoffeln – liegt deutlich niedriger als im konventionellen Lebensmittelhandel. Da Cecosesola rund 700.000 Menschen mit etwa der Hälfte ihres Bedarfs an frischen Lebensmitteln versorgt, bleibt die Wirkung nicht aus. Cecosesola hat letztlich auch die »Marktpreise« [28] in der Region gedrückt.

Der zentrale Markt von Cecosesola
Der zentrale Markt von Cecosesola.

Bedürfnisse aller Beteiligten stehen im Mittelpunkt

Natürlich stellt sich die Frage, wie das möglich ist, ohne Teil eines Unterbietungswettbewerbs zu werden. Die Antwort liegt in erster Linie darin, dass die Rollen der Herstellenden, der Vertreibenden und der Nutzenden nicht getrennt voneinander gedacht werden. Die Bedürfnisse aller Beteiligten stehen im Mittelpunkt und werden nicht gegeneinander ausgespielt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Cecosesola – also formal die Zwischenhändler – stellen den Bäuerinnen und Bauern sowie Dienstleisterinnen und Dienstleistern, zumeist Mitglieder des Verbandes, eine einfache Frage: was braucht Ihr, um eine Ernte einbringen zu können? (Das ist genau dieselbe Frage, die die SoLa- Wi-Mitglieder ihren SoLaWi-Gärtnerinnen und -Bauern stellen, sodass sie das Produktionsrisiko gemeinsam tragen können.)

Wir müssen uns den Vorgang sehr konkret vorstellen: Die Mitglieder der Produktionskooperative leben auf dem Land – mitunter abgelegen, nur mit dem Jeep zu erreichen und bewirtschaften dort ihre Felder. Cecosesola-Mitglieder, die in der Stadt in der Koordination, im Vertrieb oder im Krankenhaus tätig sind, fahren hinaus. Man versammelt sich nach einem gemeinsamen Mittagessen auf einfachen Holzbänken im Schatten eines Baumes. Allerlei Dinge werden diskutiert – das Wetter natürlich oder der Schulweg der Kinder. Nach und nach wendet sich das Gespräch ernsthaften Themen zu. Besonders wichtig ist abzuschätzen, was für die Produktion notwendig ist: soundsoviele Tage Arbeit, soundsoviel Saatgut, soundsoviel Treibstoff, genügend Bewässerungsrohre usw. Die erfahreneren Mitglieder erinnern die weniger Erfahrenen daran, dass Dinge auch kaputtgehen können und eventuell Ersatz gekauft werden muss, oder dass es sein kann, dass mehr Maultiere gebraucht werden, um das Gemüse sicher über unwegsame Steilhangpfade hinunter zu befahrbaren Wegen zu transportieren. Peu à peu bringen alle ihre Anliegen, aber auch ihr Wissen ein. Gemeinsam bestimmen sie dann die ganz konkreten Produktionskosten unter den spezifischen Bedingungen vor Ort. Das tun die Produzierenden und die »Händler« gemeinsam. Es ist eine Art Preisgestaltung vor aller Augen.

Diskussionsveranstaltung mit vielen Menschen
Treffen zur Kostenkalkulation in der Landwirtschaft.

Preise sind deutlich niedriger als auf konventionellen Märkten

Jede Kooperative im Cecosesola-Verbund geht genauso vor. Am Ende fasst der Verband die Ergebnisse all dieser Besprechungen zusammen und addiert etwas für Extraausgaben und Verluste dazu (Tomaten verderben auf dem langen Weg in die Hauptstadt, auf den Märkten gibt es Schwund, auch Diebstahl). Am Schluss geht Cecosesola einen radikalen Schritt, der jeglicher Intuition
zu widersprechen scheint: »Wir entkoppeln den Preis des Gemüses vom Aufwand, den wir hineingesteckt haben«, erläutert das Kooperativenmitglied Noel Vale Valera. »Wir summieren alle produzierten Kilos – die gesamte Produktpalette [29] – einerseits und alle dadurch entstehenden Kosten andererseits. Dann dividieren wir das Eine durch das Andere. So erhalten wir unseren Einheitskilopreis. Unser Maßstab sind einfach die Produktionskosten inklusive dem, was die Produzierenden zum Leben brauchen. … Worum es uns geht, ist, dass wir verdienen, was wir brauchen.« Vales Kollege Jorge Rath fügt hinzu, dass durch die Transparenz des Verfahrens und die kooperative Form der Preisgestaltung, »die Leute übrigens eine ganze Menge Geld [sparen]. … Der Einheitspreis entbürokratisiert, Zwischenhandel haben wir auch nicht, und von saisonalen Schwankungen lassen wir uns ebenso wenig beeindrucken.« [30] Der Einheitskilopreis für sämtliches Obst und Gemüse ist in offenen Diskussionen entstanden, unter all denen, die produzieren, und den vielen anderen, die mit ihnen zusammenarbeiten. Daher überrascht es nicht, dass die Preise deutlich
niedriger sind als auf konventionellen Märkten. Dank der Transparenz im Vertrauensraum Cecosesolas gibt es keine versteckten Kosten. Es gibt keine Kosten für Marketing und Werbung. Es gibt keinen Zwischenhandel, der für Großhandel oder Vertrieb überzogene Preise berechnet. Cecosesola ist »geldeffizient« und weitgehend preissouverän.

Cecosesola - Stärke in politischen und ökonomischen Krisenzeiten

Wirklich verblüffend ist die bemerkenswerte Stärke von Cecosesola in politischen und ökonomischen Krisenzeiten seit mehr als einem halben Jahrhundert. Sie ist auf die Fähigkeit des Verbundes zurückzuführen, sehr schnell auf sich dramatisch verändernde Verhältnisse zu reagieren. Als wir die letzten Zeilen dieses Kapitels verfassten, kämpften die Menschen in Venezuela mit der Hyperinflation – 2.874 Prozent im Jahr 2017. Seit 2018 beschreibt der IWF die Situation im Land als »ähnlich wie Deutschland 1923 oder Simbabwe in den späten 2000er Jahren« [31] Bisher war Cecosesola während der gesamten Wirtschaftskrise und der politischen Umwälzungen in Venezuela erstaunlich stabil, weil es immer wieder gelungen ist, die operationellen Verfahren anzupassen.

Ende 2016, bereits mitten in der Wirtschaftskrise, wurden zusätzliche Fahrten in den ländlichen Teil des Bundesstaates organisiert, um neue Möglichkeiten der Lebensmittelversorgung ausfindig zu machen. Dadurch kamen mehr Menschen und Produzierende mit dem Ansatz Cecesesolas in Kontakt. Es ging nicht darum, Käufer-Verkäufer-Beziehungen aufzubauen (das wäre im Kontext der Giga-Inflation ohnehin sinnlos), sondern darum, Do-It-Together-Partnerschaften einzugehen. Nur dies würde es möglich machen, mit der Situation im Land umzugehen. Gerade weil in Cecosesola seit Jahrzehnten eine Kultur des Vertrauens und der Beteiligung gepflegt wird, konnte sich der Verbund bislang der Unterstützung der Commoners sowie der Bevölkerung gewiss sein und so der wirtschaftlichen Krise standhalten. Bisher haben die Menschen von Cecosesola mit geringerer Schuldenlast und niedrigeren Fixkosten nachweisen können, dass eine Kultur des Commoning auch in großem Maßstab ein Leben und Auskommen in Würde »jenseits von Markt und Staat« sichern kann. Ob dies auch in Zukunft so bleiben wird, hängt nicht nur von Cecosesola ab.

 


[27] Die vollständige Bezeichnung von Cecosesola ist Central Cooperativa de Servicios Sociales del Estado Lara (www.cecosesola.org). Siehe Profil, »Wir sind ein großes Gespräch« in Silke Helfrich, David Bollier und Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns, a.a.O., S. 255-261, www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3245-3/die-welt-der-common
[28] Für die Zeit der Hyperinflation 2017/2018 lassen sich dazu keine gesicherten Angaben machen.
[29] Von allen beteiligten Kooperativen.
[30] »Wir sind ein großes Gespräch« in: Silke Helfrich, David Bollier und Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns, a.a.O., S. 255-261, hier: S. 259, www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3245-3/die-welt-der-commons.
[31] Die erwartete Inflation für 2018 wurde symbolisch auf 1 Million Prozent gesetzt. Viele Menschen verlassen das Land. Die Situation zehrt auch an Cecosesola.

 


Dies ist ein Beitrag ist aus dem Buch vom April 2019: